Machtmissbrauch im Deutschen Jazz und an Musikhochschulen


                                                            Berlin, 25.07.23


Einleitung
Ich habe mir ziemlich lange und ziemlich gut überlegt, ob ich dieses Statement veröffentlichen soll. Wenn es um ein Thema geht, das alle angeht, bei dem die meisten aber aus unterschiedlichen Gründen wegschauen bzw nicht ins Handeln kommen (wollen), ist das Risiko groß, am Ende ganz alleine dazustehen. Ob ich am Ende alleine bin oder nicht, das entscheidest du. Und ich fordere dich dazu auf, dich auseinanderzusetzen, auch mal ein Wort, das du nicht verstehst, zu googeln, und die Entscheidung, ob du handelst, oder eben nicht, bewusst zu treffen.

In diesem Statement geht es um Kontrolle, Macht und Missbrauch in der Musik mit Fokus auf den Hochschulkontext. Vornehmlich geht es um psychische Gewalt und emotionale Manipulation, besonders in Form von Vernachlässigung, wo Handlung und Verantwortungsübernahme angebracht oder sogar Pflicht gewesen wären.
Es geht um epistemische Gewalt, Unwissenheit, Verdrängung, Toleranz und Befähigung von Gewalt.
Um Verantwortungsverschiebung, sowie die strukturellen Abhängigkeiten, die all dies begünstigen. Also all die Dinge, für die das Strafrecht (noch) nicht zuständig ist, und um die wir uns infolgedessen als Zivilgemeinschaft selbst kümmern müssen. Und das müssen wir. Denn so wie es ist, kann man niemandem mehr guten Gewissens empfehlen, sich an einer Musikhochschule in Deutschland ausbilden zu lassen.


Es ist sehr wahrscheinlich, dass du beim Weiterlesen mit eigenen Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen konfrontiert wirst, mit denen du dich nicht auseinandersetzen möchtest, die du verdrängen oder auf später verschieben willst. Das können eigene Traumata und die darüber liegenden Gesteinsschichten von Scham sein. Oder Situationen, wo du Zeug*in warst und dich im Nachhinein gern anders verhalten hättest. Das können Erinnerungen an Situationen sein, in denen du, in welcher Form auch immer, Gewalt im weitesten Sinne ausgeübt hast, die anderen, direkt oder über Umwege, geschadet hat. Selbst wenn du unwissentlich und mit den besten Absichten gehandelt hast.
Was für den Rest dieses Statements gilt, möchte ich bereits zu Anfang betonen: Es geht nicht darum, Personen zu kritisieren, sondern deren Verhalten in bestimmten Situationen. Ich kann jemandes Verhalten kritisieren und daraus auch Konsequenzen ziehen, ohne dafür die gewaltausübende Person zum Monster zu erklären. Ebenso kann ich die Benachteiligung von Betroffenen anerkennen, ohne sie in eine entmenschlichende Opferrolle hinein zu drängen und ihnen als Preis für mein Glauben jedwede selbstbestimmte Persönlichkeitsentfaltung abzusprechen.
Wir alle erfahren und bezeugen Gewalt und wir alle üben sie aus. Wir alle machen Fehler. Das macht aus dir keine*n Versager*in.
Doch es liegt in deiner Verantwortung, dein Verhalten zu reflektieren und so anzupassen, dass du damit anderen keinen Schaden zufügst. Und es liegt in deiner Verantwortung einzufordern, dass Missbrauchstäter*innen gestoppt werden, in allen Räumen und Strukturen, in denen du dich bewegst und von denen du profitierst.

Sich dem auszusetzen und da durch zu gehen, ist nicht einfach. Ich weiß das. Aber es ist notwendig. The only way out is through. Denn auch, wenn du vom System scheinbar bevorzugt wirst, dir die Gewalt in deinem Umfeld überhaupt nicht bewusst ist, ist sie da. Sie nicht wahrzunehmen, ist ein Privileg. Sie ist überall, und sie schadet auf die ein oder andere Weise auch dir. Sie beginnt dort, wo betroffene Personen sie spüren, auch wenn sie das (noch) nicht nachvollziehbar verbalisieren können. Und wir alle täten gut daran, ihnen vorurteilsfrei zuzuhören und es ihnen zu ermöglichen, zu sprechen, ohne existentiell bedrohliche Folgen, wie z.B. soziale Ausschlüsse befürchten zu müssen.

Je eher du anfängst das verstehen zu wollen, desto besser. Der Schlüssel ist die Erkenntnis, dass man mit seinen Erfahrungen nie alleine ist, aber durch das Greifen komplex verzahnter Systeme in der Isolation gehalten wird. Gewalt und Diskriminierung, ganz gleich ob sichtbar, oder unsichtbar, sind nie individuell. Sie werden nie nur von Einzelpersonen ausgeübt, sondern immer auch gleichzeitig strukturell und kulturell bedingt. Der Friedensforscher Johan Galtung hat das in dem Modell Dreieck der Gewalt verständlich dargestellt.

Die Isolation zu überwinden und sich erkennbar zu machen, als von Gewalt Betroffene*r und/ oder als Verbündete*r, bedeutet auch, sich angreifbar zu machen.
Für marginalisierte Personen ist alleine das Wissen, nicht strukturell geschützt zu sein, bedrohlich. Dafür bedarf es noch nicht einmal einer direkten Gewalterfahrung mit einer anderen Person. Das Musikstudium ist auch ohne diese ein Überlebenskampf. Zu verstehen, welche unsichtbare Gewalt dennoch die ganze Zeit auf einen einwirkt, überwältigt und frisst Kapazitäten ohne Ende.
Für Personen, die vom System bevorzugt werden, und ganz besonders für solche, die sich trotz Benachteiligung an das System anpassen, besteht die Herausforderung darin zu begreifen, dass sie in dem, was sie als ihren eigenen Überlebenskampf, oder den Schutz einer Institution verstehen, noch immer gegenüber anderen privilegiert sind.

Innere Widerstände diese Gleichzeitigkeit anzunehmen, verhindern in Kombination mit Interessenkonflikten, sozialen Zwängen, Unsicherheit, Unwissenheit und nicht hinterfragter Anspruchstberechtigung (aka entitlement), häufig Solidarität von den Personen, denen die meisten Ressourcen und Kapazitäten zur Verfügung stehen.

In einem hochkompetitiven Umfeld wie Musikhochschulen, aber generell im Kapitalismus, ist genau das oft der Knackpunkt. Der Nachwuchs wird darauf getrimmt, an der Spitze und dort alleine zu sein. Aber wenn wir in einer Phase, in der wir unsere Identität ausbilden, meistens alleine sind, entwickelt sich keine Empathie. Wo wir beinahe ausschließlich unter Leuten sind, die uns sehr ähnlich sehen, gibt es keinen Privilegiencheck, sondern, wenn überhaupt, ein verzerrtes Bild von Empathie. Wo es unsichtbare Gewalt gibt, gibt es Machtgefälle, und umgekehrt. Sowohl fehlende, als auch fehlerhafte Empathie haben einen Mangel an wirkungsvoller Solidarität zur Folge. All dies öffnet Missbrauch Tür und Tor.

Scheinbar widersprüchliche Gleichzeitigkeiten sind immer ein Hinweis dafür, dass es im Detail noch mehr zu verstehen gibt. Bitte lass dich darauf ein und schiebe deine wertvolle  Unsicherheit nicht einfach beiseite. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, in Diskussionen um Machtmissbrauch das eigene Harmoniebedürfnis und das Bedürfnis möglichst schlau, gebildet und seriös zu wirken, hintenan zu stellen. Beides sind Kontrollmechanismen, welche die eigenen Interessen priorisieren, und den Betroffenen den Raum nehmen, frei zu sprechen. Doch sie sind es, die den besten Einblick und das meiste Wissen um das Thema Missbrauch haben. Wenn wir Betroffenen zuhören, können wir die Fehler im System aufspüren und sehen, wo die Strukturen in unseren Räumen Gewalt, Diskriminierung und Missbrauch begünstigen. Dieses Wissen ist notwendig, um zu wissen, welche Konsequenzen aus wiederholtem Fehlverhalten gezogen werden müssen.

Ich kann und möchte dich nicht davon überzeugen dich auf diesen Prozess einzulassen. Und mal ganz ehrlich: ich finde, ich hab schon genug gemacht. In diesem Statement stecken jahrelange unbezahlte Arbeit, die ich lieber mit Musik machen verbracht hätte. Und ich weiß schon jetzt, dass mich viele zitieren werden, ohne mir dafür einen Credit zu geben. Naja.

Aber ob du dich darauf einlässt, oder nicht: jetzt kannst du nicht mehr sagen, du hättest von nichts gewusst.

        

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