Grooming und psychische Gewalt




Im Jahr 2016 veröffentlichten Georgia Winters und Elizabeth Jeglic eine wissenschaftliche Arbeit zu den sechs Bestandteilen im Grooming-Prozess, welcher jeder Form von Machtmissbrauch vorausgeht, siehe hierzu auch den TED talk von Grace Tame. Grooming ist ein Eckpfeiler der Korruption. Ein relativ harmloses Beispiel von Grooming sind personalisierte Werbung und Marketing. Ein Beispiel für Grooming von Gruppen ist faschistische Propaganda.

Die Täter*innen wissen, dass das, was sie tun, falsch ist. Sonst würden sie es nicht verstecken. Sie wollen es aber eben, und finden auch Wege zu bekommen, was sie wollen. Dabei geht es in erster Linie um Macht und Kontrolle, und in zweiter Linie um sexuelle Handlungen, Geld, Anerkennung, div. andere Leistungen und emotionale Arbeit. 

Die sechs Phasen von Grooming sind:

  1. Ein „Ziel“ auswählen
    Dies bedeutet, ein Primärziel auszuwählen, und gleichzeitig andere Personen im Umfeld zu bearbeiten, um den Missbrauch zu normalisieren bzw. unsichtbar zu machen.
    Z.B. sich als Täter*in beliebt zu machen, sodass andere für einen einstehen.

    Da Täter*innen zumeist viele Menschen in ihrem Netz haben, bevorzugen sie eine Umgebung, die es ihnen einfach und bequem macht.
    Von Anfang an und immer wieder testen Täter*innen an welcher Stelle die Zielperson verletzlich ist und wo sie besonders stark ist. Am starken Widerstand arbeiten sich die wenigsten ab. Die meisten wollen es einfach und arbeiten mit Schwächen. Und jeder Mensch hat irgendwo Schwachstellen. Und diese werden in der künstlerischen Ausbildung besonders hervorgebracht.

    Personen, die Victim-Blaming betreiben, reden sich gerne ein, dass ihnen so etwas nicht passieren könnte. Fun fact: Ich habe das erste Mal Anfang 20 Machtmissbrauch in der Musik bezeugt. Meine damalige Mitbewohnerin wurde von einem Chorleiter massiv emotional und psychisch unter Druck gesetzt. Er begann, ihr Avancen zu machen, die sie nicht erwiderte. Trotzdem war sie wie verzaubert von ihm. Auch wenn ich damals nicht das Vokabular dafür hatte, war mein Gefühl zu dem Typen glasklar. Und das habe ich auch allen gesagt. Warum bekam ich das also nicht mit, als vier Jahre später jemand genau dasselbe mit mir machte? Die Antwort ist einfach: weil ich damals nicht die Zielperson und der Missbrauch nicht auf mich zugeschnitten war.
    So hart das auch ist und so überlegen du dich auch fühlst: jede*r kann „Opfer“ derart geschickter und geübter Missbrauchstäter*innen werden


  2. Ein Vertrauensverhältnis aufbauen
    Der Täter traf sich häufig, um mit mir Musik für den Ensembleunterricht zu besprechen und nutzte diese Gelegenheit dann für das Verschieben der Gesprächsthemen und die Orte, wo wir uns trafen, ins Private. Täter*innen sammeln in dieser Phase Informationen über die Zielperson und verwenden diese später gegen sie. Sie teilen dabei zumeist auch sensible und heikle Informationen über sich selbst, denn das stärkt die Verbundenheit zur Zielperson und deren Bringschuld gegenüber den Täter*innen, bzw. die Pflicht, die Person zu schützen.


  3. Ein starkes Bedürfnis ermitteln und erfüllen Damit sichern sich Täter*innen einen im jeweiligen Kontext unersetzlichen Platz im Leben der Zielperson. In meinem Fall war der Täter der einzige Dozent der Hochschule, der sich die Sorgen von Studierenden anhörte und ihnen ein Gefühl von Wärme und Sicherheit vermittelte.

    Bei mir kam außerdem hinzu, dass ich aufgrund unterschiedlicher Faktoren nicht richtig an der Schule ankam. Ich hatte bereits ein klassisches Studium absolviert und triggerte somit nicht nur die Unsicherheiten der Studierenden, sondern auch vieler Dozent*innen, die durch jahrelange systematische Benachteiligung gegenüber sogenannter E-Musik frustriert waren. Ich war außerdem älter als die meisten anderen Studierenden und hatte mehr Lebenserfahrung. Mir fehlte also jemand in meinem Umfeld, mit dem ich mich über Genregrenzen hinweg über Musik unterhalten konnte, und der ebenfalls über mehr Lebenserfahrung verfügte.

  4. Die Zielperson isolieren
    Dies geschieht, wie alles andere, auf subtile, scheinbar harmlose Weise und trennt die Zielperson von der sozialen Kontrolle ihres Umfelds. Das kann sein: kleine Kommentare, welche die anderen Personen im Umfeld nach und nach in ein schlechtes Licht rücken, während die Zielperson auf ein Podest gehoben wird. Eifersüchteleien unter Kommiliton*innen und besonders Frauen, die vom Täter geschickt inszeniert werden. Die Dynamik durch die Sensibilität besprochener Themen. Sich nie zusammen mit anderen als Paar treffen, auch nicht mit meinen engsten Bezugspersonen.

    Ich durfte mit niemandem über die Beziehung reden. Am Anfang einer Beziehung macht es Sinn, erst einmal zu schauen, wie man miteinander klarkommt und nicht gleich an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch irgendwann wird die Lüge zur Belastung. Man verbringt eigentlich all seine Freizeit als Musikstudent*in auf Konzerten und läuft sich auch hier dauernd über den Weg.
    Nach über einem Jahr erwischte uns eine gemeinsame Freundin doch. Aber der Täter überzeugte auch sie zu schweigen. Irgendwann traute ich mich, es meiner Schwester und zwei Freundinnen zu sagen, aber sie wohnten alle weit weg. Während dieser ganzen Zeit habe ich mich nicht einmal getraut, seinen Namen in mein Tagebuch zu schreiben.
    Es wurde immer schlimmer für mich, von ihm verleugnet zu werden
    und in der Öffentlichkeit entweder gar keine oder nur beiläufig-distanzierte Aufmerksamkeit zu bekommen. Diese stand im krassen Kontrast zu der scheinbar liebevollen Aufmerksamkeit, die ich in seiner Wohnung bekam, wo ca. 95 % der gemeinsam privat verbrachten Zeit stattfand. Dennoch versteckte er meine Zahnbürste und andere Hinweise auf mich unter der Spüle, wenn er Besuch zu Hause bekam. Über zwei Jahre lang. Obwohl ich ihm mehrfach sagte, wie sehr mich all das verletzt.


  5. Sexualisierung und Missbrauch/ Ausnutzen
    Grenzen wurden in meinem Fall nicht offensichtlich gewaltvoll überschritten, sondern nach und nach verschoben. Konsens wurde vom Täter geschickt konstruiert. Ich hatte großes Interesse an einer Freundschaft und am gemeinsamen Musizieren mit dieser Person, so wie alle anderen Studierenden. Nicht mehr. 
    Mit Abstand und einem klaren Kopf verstehe ich heute, wie der Täter nach und nach Gespräche über Kunst, Alltag und Arbeit sexualisierte. Wie er mir die Worte im Mund herumgedreht hat, bis ich selber nicht mehr wusste, welche Gedanken und Gefühle aus mir selbst herauskamen, und welche er mir eingepflanzt hatte. Wie sich beiläufige Berührungen und Kommentare zu meinem Äußeren häuften und wie er geschickt die Grenzen zwischen unterschiedlichen Beziehungsformen verwischte. Studierende, Kollegin, Freundin, Geliebte, Vertraute… Er bewahrte immer die Ambivalenz seiner Beziehungen, ließ in der Öffentlichkeit immer offen, in welcher Beziehung er zu der jeweiligen Person, meist eine sehr viel jüngeren Frau, stand. 
    Ich weiß noch, dass ich bei Grenzüberschreitungen seinerseits innerlich jedes Mal maximal verwirrt war. Ich weiß noch, wie ich mich verunsichert fragte: "Was mache ich hier eigentlich?”, während ich seine Annäherungen zögerlich zuließ, aber gleichzeitig anfangs kaum oder gar nicht erwiderte. Fragen wie „Möchtest Du das?“ oder „Ist das okay?", gab es von seiner Seite nicht. Diese Grenzüberschreitungen geschehen im Gegensatz zu allen anderen Phasen des Grooming in Sekunden. Und wenn man es merkt, haben sich die eigenen Grenzen bereits verschoben.

    Hinzu kam, dass all dies vor der Reform des Sexualstrafrechts von 2016 geschah und ich dementsprechend sozialisiert war. Auch heute geltendes Recht definiert alles hier Beschriebene als einvernehmliche Handlung. Heute habe ich mich, gezwungenermaßen, mit konstruiertem Konsens auseinandergesetzt. Doch damals konnte mein Verstand keinen Sinn daraus ziehen, warum irgendetwas an seinem Verhalten verwerflich sein sollte. Ich konnte mir nicht erklären, woher meine Zweifel kamen und vertraute mir durch seine Konditionierung selbst bereits immer weniger. 

    Bei dieser Art von Missbrauch kreieren die Täter*innen in ihrem Gegenüber die Illusion einer Verliebtheit, einer Seelenverwandtheit, einer ganz und gar außergewöhnlichen Verbindung und verschleiern damit die emotionale Abhängigkeit, die sie in Wahrheit installieren wollen. Jede Person, die schonmal von einem Flirt geghostet wurde, weiß, welch starken Gefühle man in kürzester Zeit für eine Person empfindet, die einem noch am Tag davor überhaupt nichts bedeutet hat. 

    Zusätzlich wurden von ihm über die gesamte Zeit meine Kapazitäten ausgenutzt. Für seine Ensembles Noten aus Bibliotheken besorgen und transkribieren, Texte schreiben und übersetzen, Recherchearbeit, Pflanzen in seiner Abwesenheit gießen und unendlich viel emotionale Fürsorge, die in keinem Verhältnis zu seiner stand.


  6. Kontrolle beibehalten
    Spätestens in dieser Phase kommen unterschiedliche Taktiken der psychischen Manipulation ins Spiel.

  • Lovebombing: mit Liebe und Zuneigung überschütten

  • Gaslighting: die Zielperson in die Irre führen, sodass sie selbst an der eigenen Wahrnehmung oder dem eigenen Verstand zweifelt

  • Täter-Opfer-Umkehr bei Konfrontationen

  • Guilt-tripping: versuchen jemanden mit Schuldzuweisungen weich zu bekommen

  • Withholding: Zurückhalten von Nähe und Fürsorge, Liebesentzug

  • Breadcrumbing: immer nur ein bisschen Zuneigung geben

  • Stonewalling: das Gegenüber mit teils lang andauerndem Schweigen strafen.

  • subtile Herabwürdigung: vergiftete Komplimente, zynische Kommentare und dabei lachen, Kleinreden, Umdeuten und Verleugnen von Grundbedürfnissen, Pathologisierung von Emotionen

  • Neglect: Vernachlässigung. Diese Form des Missbrauchs war am schwersten zu entlarven. Alle fragen erst mal, was eine Person gemacht hat. In romantischen oder freundschaftlichen Beziehungen wiegt aber genauso schwer, was eine Person alles NICHT macht bzw. unterlässt.

  • Silencing: aufgezwungenes Schweigen. Hier war der Täter besonders geschickt. Er täuschte große Angst vor, seinen Job oder seinen Ruf zu verlieren. Ganz egal, wie oft ich ihm sagte, dass die Beziehung legal ist und es auch andere Beispiele für Studierenden-Professor*innen-Beziehungen gibt. Er hatte mich darauf konditioniert, diese angebliche Angst vor meine eigenen Bedürfnisse zu stellen.

Die Sache bei emotionalem Missbrauch ist, dass die meisten Vorkommnisse für sich genommen, nicht nach einer großen Sache aussehen. Doch in ihrer Gesamtheit und über lange Zeit, richten sie massiven Schaden an. Das nennt man auch „Tod durch tausend Schnitte”.
Während man noch unter dem Einfluss des Täters steht, macht das alles keinen Sinn. Man muss erst aus der Situation entkommen sein, Abstand haben und wieder ein Gefühl der Sicherheit empfinden, um die Chance zu haben, das alles zu verstehen. Dennoch war ich nie passiv, sondern habe mich gewehrt und das Gespräch gesucht. Doch immer, wenn ich es wagte, für mich selbst einzustehen, wurde ich mit einer der oben genannten Taktiken subtil bestraft.
Diese Kombination von bewusst widersprüchlichem Verhalten seinerseits trieb mich in die Verzweiflung und oft an den Rand des Wahnsinns. Und da ich mit niemandem darüber reden durfte, musste ich da komplett alleine durch.


Und noch immer ist unsere Gesellschaft verwundert über Gewalt im engsten Kreis. Dass eine scheinbar liebevolle und beliebte Person wahnsinnig manipulativ sein kann und sich gewaltvoll verhält, möchten viele nicht annehmen oder ernst nehmen. Stattdessen wird die Schuld an die Betroffenen zurückgegeben. Wie viel wäre gewonnen, wenn Zeug*innen vorurteilsfrei und trauma-sensibel ihre Aufmerksamkeit schenken und gleichzeitig zugeben würden, wenn sie mit etwas überfordert sind?



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