Kontext Freiberuflichkeit




Die extreme interpersonelle Abhängigkeit in der Jazzszene verschärft die Ohnmacht, in der sich von Gewalt Betroffene befinden. Beinahe alle gehen neben ihrem Beruf als Musiker*in noch einer Lehrtätigkeit nach. Viele arbeiten irgendwann in Interessenverbänden und diversen Jurys, oft ehrenamtlich. Viele organisieren sich in Kollektiven und kuratieren Konzerte und Festivals mit. Alle sind irgendwie befreundet oder Kumpels miteinander und entsprechend mit den Täter*innen.
Die Interessenkonflikte, Befindlichkeiten und die kognitive wie emotionale Dissonanz, wenn man Täter*innen kennt und mag, sind komplex und überwältigend, die Einkommensverhältnisse prekär. An anderen Unis stellen Lehrbeauftragte 20-50% des gesamten Unterrichts, an Musikhochschulen sind es 80%. Dafür fahren viele quer durchs Land oder darüber hinaus, für stark schwankende, meist niedrige Stundenlöhne. Fahrt- und Hotelkosten  müssen meist selbst übernommen werden, die Verträge sind befristet auf das jeweils laufende Semester und bieten somit keine soziale Absicherung. Rein kommt man, Vorspiel hin oder her, vor allem über Empfehlung. Meist startet man seine Lehrtätigkeit an derselben Hochschule, wo man auch studiert hat und wo die Lehrenden einen bereits kennen. Alle sind existenziell voneinander abhängig. Das daraus resultierende Schweigen schützt die Täter*innen und drängt Betroffene weiter in die Scham hinein und hinaus aus der Szene und den Hochschulen.


Nachdem ich wieder zurück nach Berlin gezogen war, fing ich während der Pandemie an, mich kulturpolitisch zu engagieren. Ziemlich schnell verstand ich, dass das Thema “Diversity” gerne auf Einzelpersonen im Team abgewälzt wird, und somit kein gemeinsames Wissen und auch keine Kraft durch Gemeinschaft entsteht. Es gibt mittlerweile kein Jazzfestival ohne ein Panel zu dem Thema. Aber strukturelle Veränderungen kann es nicht geben, wenn man immer nur darüber spricht, was irgendjemand anderes vielleicht irgendwann theoretisch machen könnte.

Ich habe es nun schon einige Male erlebt, dass Musiker*innen, die sich zu struktureller oder personaler Gewalt Hilfe suchend an Interessenvertretungen wandten, überhaupt nicht, oder noch schlimmer: schlecht beraten wurden. Wenn Kritik aus den eigenen Reihen kommt, wird eher der Tonfall, oder generell die Art wie man sich äußert kritisiert, als dass irgendwelche Konsequenzen für gewaltausübende Personen folgen. Wir kommen meist nicht weiter als dieses Tone-Policing. “Wir können doch alle miteinander reden” heißt es immer wieder.
Die offensichtliche Macht in der Jazzszene haben Veranstalter*innen und Club-Besitzer*innen. Dementsprechend führen sie sich teilweise auch auf und drohen einem entweder mit Spielverbot, wenn man es wagt, sich gegen sie aufzulehnen, oder laden einen einfach nicht mehr ein. Die weniger offensichtliche Macht haben die Gatekeeper*innen der Interessenvertretungen und Jurys. Sie definieren sich häufig über ihre vermeintlich vermittelnde Position in der Szene und haben damit auch nicht selten ein kleines Nebeneinkommen. Man ist schnell dabei, zu betonen, wofür man nicht zuständig ist. Verständlich, besonders im Ehrenamt. Doch es wäre eine wichtige Konsequenz, diese Schutzlücken dann nach oben an die Politik zu kommunizieren. Wessen Interessen werden hier eigentlich vertreten...?



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